Die Lieblings-Asana
Jeder Yogi kennt das: Es gibt Asanas, auf die freue ich mich schon vor der Stunde und bin enttäuscht, wenn die Yogalehrerin diese Lieblings-Asana mal nicht in ihre Stunde einbaut.
Und es gibt andere Asanas, die würde ich freiwillig so gut wie nie üben. Wenn ich selber unterrichte, sind diese Lieblings-Asanas natürlich auch genau jene, die besonders häufig in meinen Flows vorkommen.
Warum ist das so? Na gut, einige Haltungen fallen mir einfach schwer, weil mein Körper scheinbar einfach nicht für sie geschaffen ist. Meine Hüften werden es mir nie gestatten, den Lotussitz oder andere extreme hüftöffnende Haltungen einzunehmen. Das ist der eine Aspekt: dieser Leistungsanspruch, der auch beim Yoga sich immer wieder nach vorne drängelt, obwohl ich doch auch meinen Teilnehmern immer wieder erkläre: „Yoga ist kein Wettbewerb“. Ja ja, Anspruch und Wirklichkeit klaffen ja bekanntlich doch immer weit auseinander.
Sind Lieblings-Asanas also die Haltungen, die ich am besten beherrsche?
Im Laufe der Jahre hat sich meine eigene Yogapraxis wie auch mein Yogaunterricht immer weiter verändert. Einerseits hat sich mein Körper verändert, ich bin beweglicher geworden. Andererseits hat sich auch mein Körpergefühl stark verbessert. Ich fühle mich nicht nur wohler in meinem Körper, ich habe auch ein viel feineres Gespür für alle seine einzelnen Teile. Ich spüre die Muskeln und ihr Zusammenspiel besser, ich nehme mein Bindegewebe wahr, das mit seinen vielen Nervenendigungen alle möglichen Empfindungen und Wahrnehmungen durch den Körper leitet.
Nach jahrelangem Üben hat sich natürlich auch mein Gefühl für die Yogahaltungen stark verbessert. Ich fühle genauer die Muskeln, mit denen die Haltung sich aufbaut. Ich kann die Muskelspannung feiner differenzieren, die Muskelarbeit besser koordinieren. Jede Bewegung weist inzwischen einen hohen Grad an Routine auf.
Natürlich führt dies dazu, dass ich die Haltungen, die ich aus diesen Gründen inzwischen besonders gut einnehmen kann, auch besonders gerne übe. Davon gibt es einige, die ich sicherlich auch als Lieblings-Asana bezeichnen würde.
Was macht eine Haltung zu einer wirklichen Lieblings-Asana?
Wichtig ist mir außerdem, dass eine Asana möglichst viele unterschiedliche Elemente in sich vereint. Damit meine ich, dass sie z.B. mehrere Bewegungsrichtung aufweist, vielleicht sogar gegensätzliche in der unterschiedlichen Gelenken. Je komplexer eine Asana ist, desto mehr gibt es darin zu entdecken und zu erspüren. Auch beim Unterrichten sind die spannendsten Haltungen jene, bei denen ich meinen Yogaschülern möglichst viele verschiedene Wahrnehmungen ihres Körpers vermitteln kann.
Eine Lieblings-Asana ist für mich das Dreieck – Trikonasana.
Das Dreieck ist gleichzeitig ein Twist, ein Hüftöffner, eine Seitbeuge, eine leichte Rückbeuge, erfordert Balance und Koordination, Alle Körperteile müssen gleichzeitig maximal gestreckt werden und trotzdem durchlässig bleiben. Die Haltung erfordert gleichzeitig Kraft und Leichtigkeit.
Dies alles umzusetzen oder auch für die Schüler anzuleiten ist nicht leicht. Aber es macht die Haltung für mich so reizvoll. Ich kann immer wieder neue Aspekte der Asana entdecken, sowohl bei der eigenen Übungspraxis wie auch beim unterrichten.
So oft ich Trikonasana auch schon geübt habe – die Haltung ist jedes Mal wieder neu und anders. Immer tiefer darf ich eintauchen in ihre Geheimnisse, die sich bei jedem Üben näher erschließen.
Ambivalente Gefühle während des Übens
Eigentlich ist es mein Anspruch, solchen Vorlieben nicht zu häufig nachzugeben, aber das ist wohl doch allzu menschlich. Manchmal merke ich wie ich von einer Lieblings-Asana zur nächsten weiterfließen möchte. Daher empfinde ich es als besonders wichtig, Klassen bei anderen Yogalehrern zu besuchen.
Früher habe ich regelmäßig Klassen bei den gleichen Lehrern besucht und war daher immer wieder mit deren Lieblings-Asanas und Lieblings-Vinyasas konfrontiert. Das war eine wichtige Erfahrung und auch immer wieder eine Herausforderung für mich. Vor manchen Asanas hatte ich im Vorhinein schon eine Aversion, weil sie ständig in jeder Stunde vorkamen und gerade diese mir besonders schwer fielen. Aber genau diese Herausforderung war eine wichtige Lernerfahrung für mich. Heute schaffe ich es leider nur noch selten andere Klassen zu besuchen.
Eine ‚Angst-Haltung‘ kann auch zur Lieblings-Asana werden
Ich habe lange gebraucht, bis ich mich an den Kopfstand herangewagt habe. Ich bin eher ein vorsichtiger Mensch, versuche gefährliche Situationen zu vermeiden. Daher war der Kopfstand anfangs für mich unvorstellbar, zumindest frei im Raum stehend. Es dauerte über ein halbes Jahr, bis ich mich das erste Mal an der Wand traute, die Füße vom Boden zu heben. Heute gehört der Kopfstand auch zu meinen Lieblings-Asanas und inzwischen habe ich sogar eine weitere Variation erlernt, um hineinzukommen.
Vom Kopfstand gibt es zwei Varianten – den klassischen Yoga-Kopfstand und den Drei-Punkt-Kopfstand.
Jeder Yoga-Übende findet die eine oder die andere Variante einfacher zu üben. Beim Drei-Punkt-Kopfstand lastet viel mehr Gewicht auf der Halswirbelsäule, dafür ist es leichter, die Balance zu halten.
Der klassische Yogakopfstand ist instabiler, dafür verteilt sich das Körpergewicht besser, da ein Großteil vom Schultergürtel getragen wird. Es ist jedoch viel schwieriger, die Beine nach oben zu bringen. Es gibt diesen Moment, wo man die Beine vom Boden löst und nacheinander angewinkelt an den Bauch heranzieht. Dies ist der Moment der Wahrheit. Wenn er überwunden und bewältigt ist, erschließt sich das Wesen des Kopfstands.
Eine andere Möglichkeit zum Stehen zu gelangen ist es, zuerst ein Bein nach oben zu strecken wie im stehenden Spagat. Wenn die Beweglichkeit vorhanden ist und das Bein weit genug nach oben kommt, dann gelingt es leicht, das andere Bein vom Boden zu lösen und nach oben zu heben. Diese Variante ist sehr elegant und angenehm.
Seit ich den Kopfstand mühelos stehe ist er zu einer Lieblings-Asana geworden. Ich habe die Angst fast völlig überwunden, ein kleiner Rest ist noch geblieben – die Ungewissheit doch einmal hinten überzufallen. Aber deshalb üben wir ja auch Yoga – um ins Ungewisse vorzudringen, um uns selbst dadurch zu verändern und weiterzuentwickeln.
Jede Haltung kann zur Lieblings-Asana werden
Dies wäre das Ideal in der Yoga-Praxis. Wenn jede Asana mit der Zeit für den Schüler sich erschließen würde, so dass er Freude beim Üben genauso wie bei allen anderen Haltungen empfindet. Leider ist das Wunschdenken, da es immer einzelne Haltungen geben wird, gegen die der Körper sich sperrt. Wir sind eben alle geprägt durch unsere Lebenserfahrungen wie auch die ererbten Voraussetzungen und Bewegungs-Vorerfahrungen.
So bleibt es für jeden Yogi eine fortwährende Aufgabe, auch an den ungeliebten Haltungen zu üben und die vorhandenen eigenen Beschränkungen zu akzeptieren und beständig daran weiterzuarbeiten.
Veränderung kann nur dann stattfinden, wenn die Gegenwart akzeptiert und die eigenen Beschränkungen als Tatsache ins Bewusstsein gelassen werden.
Leider neigen die meisten Menschen zu Perfektionismus. Unzulänglichkeiten werden als Scheitern empfunden statt als Herausforderung und Aufgabe. Wir Yogis sind da nicht anders. Aber die Yogapraxis konfrontiert uns immer wieder aufs Neue mit unserer Unvollkommenheit, damit wir an dieser Erfahrung wachsen und lernen sie als Stärke zu erkennen.